Paul Michael Lützeler / Stephan K. Schindler (eds.)
Gegenwartsliteratur
Ein germanistisches Jahrbuch
A German Studies Yearbook
1/2002
Schwerpunkt: Günter Grass

Jahrgang 1/2002, XIX, 328 Seiten, 2002
EUR 24,50
ISBN 978-3-86057-981-7


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Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wird international stark beachtet

Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wird international stark beachtet. So haben in den letzten drei Jahrzehnten drei deutschschreibende Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur erhalten. Auch in der Germanistik beschäftigt man sich vermehrt mit den Werken zeitgenössischer AutorInnen. Das neue Jahrbuch kommt diesem wachsenden Interesse entgegen. Es versteht sich als Forum zur fundierten wissenschaftlichen Diskussion aktueller Entwicklungen in der deutschsprachigen Literatur.

Inhaltsverzeichnis/Table of contents:

 

Paul Michael Lützeler: Vorwort

 

I. Schwerpunkt: Günter Grass

  • Thomas W. Kniesche: “Distrust the Ornament”: Günter Grass and the Textual/Visual Imagination (abstract)

  • Jutta Heinz: Günter Grass: Ein weites Feld: “Bilderbögen” und oral history (abstract

  • Monika Shafi: “Gezz will ich ma erzähln”: Narrative and History in Günter Grass’s Mein Jahrhundert (abstract)

  • Amir Eshel: The Past Recaptured?  Günter Grass’s Mein Jahrhundert and Alexander Kluge’s Chronik der Gefühle (abstract)

II. Tendenzen

  • Ruth J. Owen: “Eine im Feuer versunkene Stadt”: Dresden in Poetry (abstract)

  • Anne-Rose Meyer: Physiologie und Poesie: Zu Körperdarstellungen in der Lyrik von Ulrike Draesner, Durs Grünbein und Thomas Kling (abstract)

  • Carsten Könneker: Dupliks, ULOs und Upgrades des Menschen: Romanliteratur im Zeichen der neuen Biotechnologie (abstract)

  • Christine Mondon: Erinnerung und Form bei Peter Handke: Zum phänomeno-poetischen Verfahren des Autors (abstract)

III. Einzelinterpretationen

  • Lutz Koepnick: Zapping Channels: Uwe Johnson, Margarethe von Trotta, and the Televisual Aesthetics of Jahrestage (abstract)

  • Brad Prager: The West German East German Novel: Jurek Becker’s Schlaflose Tage in Context (abstract)

  • Jürgen Heizmann: In den Wäldern die Feuer: Geschichte und Aktualität im Schinderhannes-Roman von Gerd Fuchs (abstract)

  • Martin Hielscher: Der Kannibalismus des Erzählens: Zu Uwe Timms Roman Kopfjäger (abstract)

  • Maria Krol: Christoph Hein: Die Vergewaltigung: Kalender der ‘großen Geschichte’ versus Kalender der ‘kleinen Geschichte’ (abstract)

  • Hans-Peter Bayerdörfer: Nebentexte, groß geschrieben: Zu Marlene Streeruwitz’ Drama New York. New York. (abstract)

  • Heidi Schlipphacke: Enlightenment, Reading, and the Female Body: Bernhard Schlink’s Der Vorleser (abstract)



Abstracts:




Thomas W. Kniesche
: “Distrust the Ornament”: Günter Grass and the Textual/Visual Imagination

This article examines the relationship between Grass’s writing and his visual art. Taking its point of departure from Grass’s interest in the baroque emblem, it shows that the visualization of narrative structures reflects his adherence to modernist aesthetics with regard to the displacement of the narrative voice. Situating Grass’s aesthetics within the context of postwar Germany and his attempt to go beyond neo-realist writing, the study claims that it was this specific historical context that determined his ideology of creativity in art and literature. Scholarship on Grass’s artwork is divided into realist and allegorical readings of his visual art. It is argued that these two seemingly different kinds of interpretations of Grass’s intertextual and intermedial corpus both originate in readings of Walter Benjamin’s concept of allegory.


Jutta Heinz: Günter Grass: Ein weites Feld: “Bilderbögen” und oral history
Günter Grass’ Roman zur Wiedervereinigung Deutschlands, Ein weites Feld, löste bei seinem Erscheinen eine polemisch geführte öffentliche Debatte aus. Man warf Grass vor, der Text sei mehr politisches Pamphlet als Kunstwerk; poetische Qualitäten wurden ihm rundweg abgestritten. Der Beitrag versucht anhand der Unsterblichkeitsmotivik nachzuweisen, daß dem Roman eine stringente, auf den Gegenstand geradezu maßgeschneiderte Poetik zugrundeliegt. Unsterblichkeit wird dabei nicht nur den großen Werken der Kunst, sondern auch der unvergänglichen historischen Schuld der Deutschen zugesprochen. Dagegen setzt Grass eine neue Form von „real existierender Unsterblichkeit“, die in den alltäglichen Formen erzählter Geschichte und nach dem Muster der Neuruppiner Bilderbögen poetisch umgesetzt wird.


Monika Shafi: “Gezz will ich ma erzähln”: Narrative and History in Günter Grass’s Mein Jahrhundert
This article investigates the narrative and historical principles informing Günter Grass's Mein Jahrhundert, a collection of one hundred stories, one for each year of the past century. Faced with the challenging task of satisfying both history's and literature's needs, Grass assumes the dual role of chronicler and autobiographer, and he presents the last one hundred years as a "history from below." Yet, Grass's attempt to dismantle the grand récits is only partially successful because his depiction of women and foreigners tends to reinscribe patriarchal and ethnocentric discourses. While Grass cannot completely bridge the gap between representative history and counter-history or between historical and literary narration, these ambiguities underscore the fragmentary and multifarious nature of his project, and they also reveal Grass's renewed belief in the didactic function of history.


Amir Eshel: The Past Recaptured?  Günter Grass’s Mein Jahrhundert and Alexander Kluge’s Chronik der Gefühle

Both Günter Grass’s Mein Jahrhundert and Alexander Kluge’s Chronik der Gefühle attempt to deliver a précis of the twentieth century. This essay employs narrative theory to show how substantially different their accounts are. Grass’s narrative reflects a Hegelian concept of history as a cohesive, intelligible process that leads to a breach in civilization—to Auschwitz and beyond. The narration’s aim is thus not merely to present actual and fictive events but also to uncover the mechanisms behind the historical “process” in order to illuminate it. Alexander Kluge’s narratives, by contrast, display the historical as a cluttered sum that the narration can only unfold yet cannot bring into any intelligible order. The semantics and poetics of his historical narratives thus center on tracking the movement of individuals and collectives as they both create and cope with the chaos called history.


Ruth J. Owen: “Eine im Feuer versunkene Stadt”: Dresden in Poetry

This essay explores a particular manifestation of the “Stadtgedicht” or city-poem. It traces the way that Dresden has become a significant topos in German poetry in the second half of the twentieth century. The identification of a complex of associations, motifs, and images reveals the poets’ concern with commemorating the devastating fire-bombing of Dresden in 1945. Taking its cue from essays by Wulf Kirsten and Gerrit-Jan Berendse on Dresden poetry of the 1960s and 1970s, this piece examines how the tradition established in those decades has been developed by a subsequent generation of German poets writing in the 1980s and 1990s.  The representation of Dresden in relation to various histories (national, personal, intertextual) returns repeatedly to the tension between what passes away and what is preserved in perpetuity.


Anne-Rose Meyer: Physiologie und Poesie: Zu Körperdarstellungen in der Lyrik von Ulrike Draesner, Durs Grünbein und Thomas Kling
Gesellschaftlich brisante Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften und der damit verbundene öffentliche Diskurs haben in den vergangenen zehn Jahren Inhalt und Schreibweisen von Lyrik geprägt. In Gedichten von Ulrike Draesner, Durs Grünbein und Thomas Kling lassen sich die Einflüsse neuer Wissensparadigmen in Medizin, Bio- und Neurowissenschaften aufzeigen. Ihr literarisches Körper- und Menschenbild ist infolgedessen bestimmt durch: a) die hirnphysiologische Determinierung von Sprache und Ausdrucksweise sowie die Negation von Individualität und authentischer Selbst-Aussage eines kreativen Autor-Ichs aufgrund neurologischer ‘Programmierungen’; b) Kritik am medizintechnologisch Machbaren (Draesner); c) Darstellung der poetologischen Implikationen neurokybernetischer Wahrnehmungsmodelle (Grünbein, Kling); d) Verfahren der Dekonstruktion und Segmentierung als beherrschende Darstellungsmodi.


Carsten Könneker: Dupliks, ULOs und Upgrades des Menschen: Romanliteratur im Zeichen der neuen Biotechnologie
Spätestens seit die Feuilletons der großen Zeitungen die so genannten Lebenswissenschaften für sich entdeckten, sind Gentechnik und Reproduktionsmedizin nachhaltig in das öffentliche Bewusstsein getreten. Doch auch die aktuelle Romanliteratur kennt bereits genmanipulierte Organismen, Hybridwesen zwischen Mensch und Maschine, “Designer-Babys” und mehr. Im Gegensatz zum literarischen Diskurs der 1920er und 1930er Jahre, als die medial traktierte moderne Physik zur künstlerischen Auseinandersetzung reizte, geht von den Romanen im Dunstkreis der neuen Biowissenschaften allerdings keine ästhetisch-stilistische Innovationskraft aus. Der wichtigste Grund dafür ist, dass es sich hier um einen primär von der Anwendungsseite getriebenen Diskurs handelt.


Christine Mondon: Erinnerung und Form bei Peter Handke: Zum phänomeno-poetischen Verfahren des Autors
Die Arbeit an der  Erinnerung gründet auf der (nie endenden) Suche nach der Form. Die Erinnerung verdichtet sich schon in den frühesten Bildern als Angstvision. Arbeit an der  Erinnerung ermöglicht die Annäherung an die Zeit der Kindheit. Um den Zirkel der leidenden Erinnerung zu durchbrechen, bedarf es der Erfahrung der Epiphanie. Auf verschiedenen Ebenen überlagern und durchkreuzen sich die Erinnerungserlebnisse, die eine Wende in Innerweltliches vollziehen. Bei Handke, dessen Nähe zur Phänomenologie nicht zu übersehen ist, bedeutet Erinnerung "Arbeit an der Gegenwart". Gegenwart wird als nie endende “Arbeit am Glück” belebt.  Rückerinnerung ist grundlegend für Handkes phänomeno-poetisches Verfahren; sie ermöglicht eine dynamische Textur-Strategie, die Bildkonfigurationen schafft.


Lutz Koepnick: Zapping Channels: Uwe Johnson, Margarethe von Trotta, and the Televisual Aesthetics of Jahrestage

This essay compares the role of television, history, and mediated memory in Uwe Johnson’s Jahrestage with Margarethe von Trotta’s adaptation of the novel for television. Whereas Johnson’s novel provides images of fragmentation, uncertainy, and drift, images that aim at the impossible, namely, to re-present the sensation of vacant moments, the lived experience of empty time, in von Trotta’s miniseries the conventions of epic melodrama try to gloss over the experience of history as vacant and unredeemed.  Johnson’s novel is an attempt not simply to flee from the empty moments and violent ruptures but to beat them at their own game, while von Trotta exhibits German history—in spite of all its negativity—as a site of visual attraction and nostalgic identification.


Brad Prager: The West German East German Novel: Jurek Becker’s Schlaflose Tage in Context

This essay analyzes Becker's novel with respect to its historical context. In order to explain the various dimensions of the text, it is first situated relative to the banishment of Wolf Biermann and Becker’s subsequent abandonment of the GDR. Significantly, however, the novel's critique of the GDR takes place not only on the level of its content. This essay concerns itself primarily with Becker's innovative formal choices. Becker's chosen narrative perspective reflects uniquely his main character's sudden inability to identify with the State. The historical importance of the novel, therefore, lies in the fact that it marks, by way of a formal, narrative shift, the point at which Becker turned away from the Party and began to criticize the State. With this novel, the author aligned himself squarely with the Western Marxist literary tradition.


Jürgen Heizmann: In den Wäldern die Feuer: Geschichte und Aktualität im Schinderhannes-Roman von Gerd Fuchs

Gerd Fuchs destruiert im Schinderhannes nicht nur den Mythos vom edlen Räuber, sondern stellt auch die moderne Utopie vom universalen Fortschritt der Freiheit und Solidarität in Frage. Der Artikel zeigt, wie der Roman trotz realistischer Illusion aktuelle Erfahrungen wie das Ende des Sozialismus im Geschichtlichen zum Ausdruck bringt. Alle Akteure — darunter die historischen Figuren Jeanbon Saint-André, einst mächtiger Jakobiner und ab 1802 Präfekt Napoleons in Mainz, sowie Georg Friedrich Rebmann, früher radikaldemokratischer Publizist und nun Gerichtspräsident, — müssen erleben, wie ihr Weltbild von gestern heute nicht mehr stimmt. Sie werden in  “riskante Freiheiten” entlassen, die der Soziologe Ulrich Beck als Kennzeichen unserer Zeit auffasst. Die Sympathie des Erzählers gehört dabei den Desperados und Einzelkämpfern, die jenseits aller Ideologien und Konventionen ihren eigenen Weg suchen.


Martin Hielscher: Der Kannibalismus des Erzählens: Zu Uwe Timms Roman Kopfjäger
Uwe Timms Roman Kopfjäger wird als Beispiel für eine postkoloniale und selbstreferentielle Literatur verstanden, die sowohl artistisch wie realistisch ist. Der Roman verknüpft den nicht-linear erzählten Lebensbericht seines Protagonisten mit Deutungen der immer noch rätselhaften Kultur der Osterinseln. Der Ich-Erzähler Peter Walter kämpft um das Recht, sein Leben selbst zu erzählen, wobei sein Widerstand gegen einen verwandten Schriftsteller, der die Familie literarisch ausbeutet, weniger postmoderne Ironie ist, als vielmehr Reflexion von Herrschaftsverhältnissen wie im Kolonialismus. Im Roman werden die Gegenwartsliteratur wie die archaischen Steinfiguren auf der Osterinsel als “Luxus”-Produktionen gedeutet. Die Moderne und die kapitalistische Wirtschaft werden durchleuchtet im Hinblick auf ihr archaisches Erbe.


Maria Krol: Christoph Hein: Die Vergewaltigung: Kalender der ‘großen Geschichte’ versus Kalender der ‘kleinen Geschichte’

Die Arbeit zeigt, wie Hein ein aus den Kalendergeschichten von Grimmelshausen, Hebel und Brecht bekanntes Prinzip der Verbindung zwischen der ‘kleinen’ und der ‘großen’ Geschichte zum Zweck der Kritik an der offiziellen DDR-Geschichtsdarstellung mit ihrem ideologischen Bild der historischen Wirklichkeit verwendet. Eine Erzählstrategie, die bei Hebel eine äußere Verbindung zwischen der ‘kleinen’ und der ‘großen’ Geschichte schafft, dient bei Hein der Entlarvung des Ausbleibens einer wirklichen Beziehung zwischen der persönlichen Geschichte der Protagonistin Ilona und den sozialpolitischen Ereignissen in der DDR. Ilona identifiziert sich mit der offiziell propagierten Version der DDR-Geschichte und nimmt die kontroversen  Ereignisse in ihrem Land nicht wahr, was schließlich bei einer Konfrontation mit der Realität zu ihrer Lebenskrise führt.


Hans-Peter Bayerdörfer: Nebentexte, groß geschrieben: Zu Marlene Streeruwitz’ Drama New York. New York.

Der Nebentext der neuzeitlichen Dramatik wird in seiner doppelten Funktion betrachtet: als imaginative Anleitung für die Leserezeption und als präskriptive oder regulative Vorgabe für die Bühne. Als Indikator für das Verhältnis zwischen literarischer Dramatik und szenischem Spiel verändert er sich prägnant in  Phasen der Krise und der Reform, so in der zweiten Hälfte des 18. und im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert.  Für die Gegenwart wird exemplarisch das Textverfahren von M. Streeruwitz untersucht, bei dem der Haupttext vom Nebentext her überwuchert wird. Daraus ergeben sich gravierende dramaturgische Konsequenzen. Weitere Vorgehensweisen werden dem gegenüber gestellt, sei es, daß sie die Differenz zwischen den beiden Textebenen unterlaufen (A. Ostermaier), sei es, daß sie alle Nebentextelemente in die Figurenrede einbeziehen (R. Schimmelpfenning).


Heidi Schlipphacke: Enlightenment, Reading, and the Female Body: Bernhard Schlink’s Der Vorleser

Bernhard Schlink’s novel Der Vorleser has revived a discussion about the assignation of guilt and the relationship between post-war generation Germans and their parents. The novel offers, in many ways, a complex view on the “perpetrators” of World War II. The constellation of figures holds the potential to reexamine rigid notions of victims and victimizers endemic to a large body of post-war German literature. The novel shies away from its critical potential through the detective novel narrative that reveals Hanna to be illiterate. Rather than exploring the complexities of gender and agency, the adult narrator attempts to simplify them through a reductive and infantilizing representation of Hanna. The text engages in a gesture of gender delineation and marginalization similar to that performed in Immanuel Kant’s “Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.”


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Letzte Änderung: 26.11.2016 10:12:00

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