Paul Michael Lützeler, Erin McGlothlin, Jennifer Kapczynski (Hrsg.) Gegenwartsliteratur Schwerpunkt/Focus: Thomas Bernhard Ein germanistisches Jahrbuch A German Studies Yearbook 13/2014 |
EUR 24,50 ISBN 978-3-95809-640-0 |
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Inhaltsverzeichnis / Table of Contents I. Schwerpunkt: Thomas Bernhard Rüdiger Görner Weltenstücke: Der Lyriker Thomas Bernhard In Thomas Bernhards erster Schaffensphase (ca. 1952-1963) spielt die in der Forschung oft unterschätzte Lyrik eine Hauptrolle. Zwar ist seine erste literarische Veröffentlichung, das Gedicht “Mein Weltenstück” (1952), in seinem lichten Grundton noch wenig charakteristisch für seine spätere Lyrik und Prosa, doch spricht sich in ihm bereits seine Lust an Parodie und Wiederholung aus. Vielschichtigkeit und Fülle von Bernhards lyrischem Werk legen es nahe, einzelne Motive (Tod, Landschaft, Klang) und rhetorische Strukturen zu deuten, die im vorliegenden Aufsatz auch an zahlreichen bislang unbekannten Texten untersucht werden. Der eigentliche Quellenfund ist dabei Bernhards Arbeit mit den Kantatentexten J.S. Bachs. Desgleichen wird die werkgeschichtlich bedeutsame Frage aufgegriffen, was den Übergang von der Lyrik insbesondere zur Prosa (Frost, 1963) charakterisiert. Claudia Liebrand Chandos, Bacon und Urbantschitsch: Hörensagen und Autopsie in Thomas Bernhards Kalkwerk Der Beitrag beschäftigt sich mit der Doppelstruktur von Bernhards Das Kalkwerk — einem Roman, der eine Versuchsanordnung in Szene setzt, die die Empirismus- und Objektivierungswut des Protagonisten thematisiert. Erzählt wird davon allerdings in einem Text, der sich als Gerede präsentiert, über dessen Wahrheits- und Referenzwert keine Aussagen möglich sind. Hörensagen und Autopsie/Autakusie konfligieren. Prinzipielle Darstellungs- und Sprachskepsis, die in eine Traditionslinie gestellt werden können, die auf Hofmannsthal zurückführt, werden im Roman in ein spannungsreiches Verhältnis zur neuzeitlichen Wissenschaftstheorie gesetzt. Deren Galionsfigur ist jener Bacon, auf den metonymisch Bezug genommen wird — spielt doch ein Gemälde seines Namensvetters Francis Bacon eine Rolle. Urbantschitsch, der Otologe, in dessen Fußstapfen Bernhards Protagonist tritt, erscheint in dieser Perspektive als Iteration des englischen Wissenschaftstheoretikers der Frühen Neuzeit. Tim Mehigan From Kant to Schopenhauer: The Philosophical Discussion about Science in Thomas Bernhard’s ‘Baroque’ Novel Das Kalkwerk That Schopenhauer influenced Thomas Bernhard has been noted repeatedly in Bernhard scholarship. However much such a view can be endorsed, it also fails to indicate the strength and independence of Bernhard’s philosophical commitments. Bernhard’s thought-world, I argue, is matched with that of Schopenhauer, without being extractable from it. Schopenhauer and Bernhard are fellow travelers whose writings emerge from a common philosophical source or problem. In amplifying this argument with reference to Das Kalkwerk (1970), I show both that Bernhard’s novel can be read philosophically and that it puts forward a “Baroque” account of subjectivity. Through his abject portrait of the novel’s protagonist, Bernhard polemicizes against a philosophical stance that seeks a perfect conjunction of science and spirit in the world. Paul Buchholz Anarchic Affinities in Thomas Bernhard’s Fiction of 1978: Ja, Der Stimmenimitator, and the Specter of Ingeborg Bachmann This article approaches the question of whether it is possible to identify a “Bernhard-specific anarchism” (Barbey), by examining how the concept of “anarchy” assumes a special significance within Bernhard’s published prose works of 1978: Ja and Der Stimmenimitator. These two works mark the beginning of Bernhard’s intertextual dialogue with Ingeborg Bachmann, as both contain fictional portraits of deceased female intellectuals whose oppositional cosmopolitan attitudes recall Bachmann’s critical literary utopianism. The narrators of Ja and Der Stimmenimitator respond to Bachmann’s critical utopianism through diverse discourses on “anarchy,” a cosmopolitan term of resistance directed against all existing societies. The narrative instabilities of Ja in particular index an unspoken yet intense regret over an unrealized dialogue with Bachmann about the oppositional cosmopolitanism of literature. Thorsten Carstensen Keine Spuren hinterlassen: Bauen, Wohnen und Erben bei Thomas Bernhard Fotografien zeigen Thomas Bernhard oft auf seinem Vierkanthof, dessen Gebäude er selbst restaurierte und einrichtete. Mit dieser Art der Bestandspflege, durch die Haus und Wohnung zu Orten der Subjektkonstitution werden, haben Bernhards literarische Figuren freilich wenig im Sinn: Die Inszenierung des Wohnens, mit der das Ich Spuren im Raum hinterlässt, ist ihnen fremd. Stattdessen opponieren sie gegen die bürgerliche Wohnsucht, indem sie sich in Denkkerker zurückziehen, ihren Haushalt auflösen, das Anwesen der Eltern herunterwirtschaften oder den Familiensitz gleich ganz wegschenken. Wenn Bernhards Prosatexte vom Bauen, Wohnen und Erben in Österreich erzählen, setzen sie sich immer auch mit der politischen und kulturellen Kollektivgeschichte auseinander: Gerade der Umgang mit dem baulichen Erbe ist bei Bernhard als Kommentar zur österreichischen Vergangenheitsbewältigung zu lesen. Oliver Simons “In die entgegengesetzte Richtung”: Thomas Bernhards Poetik des Gehens Der Schulweg ist eines der bevorzugten Motive bei Bernhard, und doch erreichen seine Schüler nur selten ihr Ziel. Entweder sie kommen vom Weg ab oder sie kehren sogar um. Während sich seine Zöglinge dem Zugriff von pädagogischen Einrichtungen zu entziehen versuchen, entwickeln Bernhards Gehende einen alternativen Bildungsweg: eine Poetik der Abweichung und der sprachlichen Bilder, die dieser Beitrag anhand seiner Erzählung “Gehen” näher untersucht. Zum einen wird gefragt, mit welchen narratologischen Mitteln der Text die Ereignisse in einem Hosenladen rekonstruiert, bei dem Karrer verrückt geworden war. Zum andern analysiert der Beitrag, wie sich der Erzähler mittels seines Metaphernverständnisses vor Karrers Schicksal bewahrt. Die subversive und die bildende Funktion, so die Annahme, hat Bernhards Poetik des Gehens mit den Schulwegen gemein. László V. Szabó “Die Wahrheit ist ein Debakel”: Zu Thomas Bernhards aphoristischem Schreibstil Mit Hilfe der heutigen Aphorismus-Forschung untersucht der Aufsatz die aphoristische Struktur von Bernhards Prosa- und Dramen-Texten, etwa Frost, Alte Meister oder Die Jagdgesellschaft. Bernhards aphoristischer und fragmentarischer Schreibstil bilden ein Strukturelement seiner Texte. Dieser Stil mit seinen pointiert-provokativen Formulierungen wird als postmodern gedeutet. Einzelne Aphorismen werden sowohl in einem close reading-Verfahren interpretiert als auch in weiteren Deutungskontexten als Glieder einer Gedankenkette betrachtet. An verschiedenen, aphoristisch strukturierten Textbeispielen wird gezeigt, dass Bernhard, indem er die Grenzen der Gattungen transzendiert und Pointen überspitzt formuliert, einen aphoristischen Schreibstil pflegt, der seinem aphoristischen Denkstil entspricht. Letzterer wird als eine Form der Erkenntnis gesehen, die sich frei zwischen antithetischen Polen des Denkens (etwa Wahrheit und Lüge, Tragik und Komik) bewegt, um ihre Antagonismen zu relativieren. Matthias Beilein Ist Thomas Bernhard ein kanonischer Autor? Die Bezeichnung eines Textes als kanonisch erfolgt meist intuitiv. Während dies für viele Autoren und Werke des Kernkanons unproblematisch erscheint, ist es jedoch in Hinblick auf die Kanonizität von Texten der Gegenwartsliteratur angezeigt, solche Prädikate zu begründen, da sich die Dauerhaftigkeit und Mustergültigkeit, die man mit der Feststellung von Kanonizität einem Text, Werk oder Autor zuschreibt, nicht unmittelbar plausibilisieren lassen. Der vorliegende Beitrag zeigt am Beispiel Thomas Bernhards, woran sich erstens der hypothetisch angenommene kanonische Status seines Werks ablesen lässt; zweitens möchte er Impulse für die weitere Forschung setzen, indem er aufzeigt, welche unterschiedlichen Akteure, Institutionen, Handlungen und Vorgänge in den Blick zu nehmen sind, wenn kulturelle Selektionsphänomene anhand von breit angelegten und empirisch fundierten Studien beschrieben werden sollen. II. Tendenzen Leslie A. Adelson Horizons of Hope: Alexander Kluge’s Cosmic Miniatures and Walter Benjamin Cosmic miniatures are short literary experiments by Alexander Kluge in which cosmic motifs pivot on narrative uses of futurity as experiential portals in time. Kluge’s use of futurity in new stories for the 21st century illuminates changing critical and phenomenological relations between cosmic horizons and human life teetering between hope and destruction today. A close reading of narrative operations in “Hoffnung bei Sonnenaufgang” from Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006) explains how Kluge’s writing is indebted to, and significantly diverges from, Walter Benjamin’s sidereal configuration of the futurity of hope and the culture of storytelling. Deviating too from an urban tradition of “modernist miniatures” (Andreas Huyssen), Kluge’s poetics of suns and stars work with small forms on cosmic dimensions of contemporary German literature. Michaela Kopp-Marx “Prosa soll sehen machen”: Patrick Roth und der Film Patrick Roths filmische Prosa ist ein besonders plausibles Beispiel für eine Theorie der Intermedialität. Der Autor hat das Erzählen in der Ausbildung zum Regisseur an der Filmschule gelernt, und tatsächlich ist der cinematographische background in seinen Texten allgegenwärtig — von der Anverwandlung filmischer Bilder und Szenen bis hin zur narrativen Technik, die stark vom Film beeinflusst ist. Die Intermedialität funktioniert auch in umgekehrter Richtung, wenn ganze Filmepisoden literarisch reinszeniert und der eigenen Prosa eingefügt werden. Am Beispiel einer Analyse von Meine Reise zu Chaplin (1997/2013) und Die amerikanische Fahrt (2013) wird deutlich, dass Patrick Roths Alleinstellungsmerkmal in der gegenwärtigen Literatur — sein charakteristisches, auf Transformation zielendes “präsenzpoetisches” Erzählen — in der Erfahrung filmischer Bilder gründet. Sabine Wilke Figurationen von Klimawandel: Ilija Trojanows EisTau als Elegie des Anthropozäns Dieser Aufsatz geht der Frage nach wie Literatur den Klimawandel literarisch gestalten kann. Zunächst wird eine Einführung in die Positionen der geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Diskussion über den Klimawandel gegeben, die die Aufgabe der Literaturwissenschaft in den Kontext von Geschichte, Bildwissenschaften und Soziologie rückt. In einem zweiten Schritt wird eine Übersicht über die anglophone und deutschsprachige Klimafiktion als Beispiel pikaresker Allegorien des Anthropozäns gegeben. Der Hauptteil besteht aus der Analyse von Trojanows Roman EisTau, der als Beispiel einer Elegie des Anthropozäns gelesen wird. Obwohl der Protagonist zu keiner sinnvollen Haltung gegenüber dem Klimawandel findet, bietet der Roman dennoch ein Angebot, die elegische Stimmung des Protagonisten in ihrer Radikalität wörtlich zu nehmen, ein Ansatz, der mit den Forschungsergebnissen der “Ecopsychology” vertieft wird. Stephan Braese Auf dem Rothschild-Boulevard: Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt und die deutsch-jüdische Literatur Der im Frühjahr 2012 erschienene Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt von der 1984 in Baku/Aserbeidschan geborenen Jüdin Olga Grjasnowa ist das jüngste, Aufsehen erregende Beispiel der Literatur von Juden deutscher Sprache, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als sogenannte “Kontingentflüchtlinge” nach Deutschland gelangt waren. Der Aufsatz geht der Frage nach, ob und inwiefern dieser Roman im historischen Kontinuum ‘deutsch-jüdischer’ Literatur steht. Die Untersuchung zeigt, dass sowohl die kulturelle Sozialisation dieser jüngsten Generation jüdischer Autoren deutscher Sprache, aber auch die akute Gegenwart, wie sie in Grjasnowas Roman entfaltet wird, die für die deutsch-jüdische Literatur konstitutive Bipolarität aufsprengt und auf eine Zukunft deutet, in der der Terminus “deutsch-jüdische Literatur” seine einstige analytische Kraft zum Verständnis von Gegenwartsliteratur einzubüßen beginnt. David-Christopher Assmann Roman eines Künstlers: Raum und Paratext in Michael Krügers Die Turiner Komödie Wird das Postulat nahezu voraussetzungsloser Kreativität spätestens mit der Postmoderne hinfällig, erscheint es nicht zuletzt Künstlern selbst fragwürdig, sich als Schöpfer eines mit transzendentem Sinn aufgeladenen Kunstwerks zu inszenieren. Anhand von Michael Krügers Die Turiner Komödie zeigt der Beitrag, wie ein literarischer Erzähltext die Bedingungen eines derart entzauberten Künstlertums wiederum mit dem Akt literarischer Kreativität koppelt. Mit Verfahren des Überblendens zwischen dem Raum des literarischen Feldes, in dem sich der Protagonist als Künstler stilisiert, der Turiner Wohnung des Verstorbenen samt dessen Nachlass sowie der Paratexte, aus denen sich der Bericht eines Nachlassverwalters selbst schließlich generiert, erweist sich die Form des Romans als die eines ‘Künstlerromans nach dem Künstlerroman’. Charlton Payne How the Exiled Writer Makes Refugee Stories Legible: Saša Stanišic’s Wie der Soldat das Grammofon repariert Saša Stanišic’s debut novel is about a teenager who flees to Germany during the Bosnian war in 1992 and eventually establishes a distinctive narrative voice as a storyteller in exile. The novel’s virtuosic play with narrative conventions, however, is confronted by its own limitations in the figure of the refugee who has been denied the voice of either the citizen, or the exile, or the writer. This essay focuses on the novel’s exploration of narrative multiplicity through second-person fiction. It demonstrates the ways in which Stanišic’s novel invites us to reflect upon the predicaments inherent in the struggle to transform the noise and silences of other refugees, those who have not been heard or understood, into audible voices and legible figures by means of literary transposition. Rezensionen / Book Reviews BRAUN, REBECCA & MARVEN, LYNN eds. Cultural Impact in the German Context. Studies in Transmission, Reception, and Influence. (Kerstin Barndt) 341 GEISENHANSLÜKE, ACHIM & HEHL, MICHAEL PETER, Hgg. Poetik im technischen Zeitalter: Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs. (Kurt Beals) 343 SHAFI, MONIKA. Housebound: Selfhood and Domestic Space in Contemporary German Fiction. (Necia Chronister) 345 ALBRECHT, MONIKA. “Europa ist nicht die Welt”: (Post)Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit. (Angelica Fenner) 347 STEFANSKI, MICHAL. Die 68er-Generation vor Gericht: Untersuchungen zu den Konfliktkonstruktionen in den Texten der 85er-Generation. (Christina Gerhardt) 349 HOLDENRIED, MICHAELA & WILLMS, WEERTJE, Hgg. Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. (Julia K. Gruber) 351 REINHÄCKEL, HEIDE. Traumatische Texturen. Der 11. September in der deutschen Gegenwartsliteratur. (Jesper Gulddal) 354 ESKIN, MICHAEL; LEEDER, KAREN; YOUNG, CHRISTOPHER, eds. Durs Grünbein. A Companion. (Gundela Hachmann) 356 PRUTTI, BRIGITTE. Festzertrümmerungen: Thomas Bernhard und seine Preise. (Sean Ireton) 358 THUSWALDNER, GREGOR. “Morbus Austriacus”: Thomas Bernhards Österreichkritik. Zur neueren Literatur Österreichs. (Sean Ireton) 360 PAUSE, JOHANNES. Texturen der Zeit. Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Joshua Kavaloski) 362 GÖTTSCHE, DIRK. Remembering Africa: The Rediscovery of Colonialism in Contemporary German Literature. (David Kim) 364 O’DRISCOLL, ANNA. Constructions of Melancholy in Contemporary German and Austrian Literature. (Caroline Kita) 366 VISSER, ANTHONYA. Körper und Intertextualität. Strategien des kulturellen Gedächtnisses in der Gegenwartsliteratur. (Suzuko Mousel Knott) 368 RICKES, JOACHIM. Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. (John Pizer) 370 FIRTH, CATRIONA. Modern Austrian Literature through the Lens of Adaptation. (Sunka Simon) 372 GANSEL, CARSTEN & BRAUN, MATTHIAS, Hgg. Es geht um Erwin Strittmatter oder der Streit um die Erinnerung. (Caroline Summers) 374 CROWE, SINÉAD. Religion in Contemporary German Drama: Botho Strauß, George Tabori, Werner Fritsch, and Lukas Bärfuss. (Jane Wilkinson) 376 Editorische Notiz / Editorial Note |
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