Paul Michael Lützeler / Erin McGlothlin / Jennifer Kapczynski (eds.)
Gegenwartsliteratur
Ein germanistisches Jahrbuch
A German Studies Yearbook
11/2012
Schwerpunkt/Focus: Uwe Timm

Band 11/2012, 376 Seiten, kt.
EUR 24,50
ISBN 978-3-86057-582-6


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Inhalt:

Oliver Jahraus: Mnemosyne und Prosopopoiia: Erinnerung, Tod und Stimme bei Uwe Timm
Der Beitrag rekonstruiert ein Modell der Erinnerung, das Uwe Timm vor allem in den Romanen Rot (2001) und Halbschatten (2008), in den Erinnerungsbüchern Am Beispiel meines Bruders (2003) und Der Freund und der Fremde (2005) und in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Von Anfang und Ende (2009) entwickelt. Dabei werden zwei Aspekte aufeinander bezogen. Zum einen wird mit Rückgriff auf Harald Weinrichs Konzept der Lethe ein Zusammenhang zwischen Erinnerung, Vergessen und Tod dargestellt. Zum anderen wird die performative und mediale Dimension der Erinnerung beleuchtet, die in der sprechenden Stimme ihren Ausdruck findet. Mit Bettine Menkes Konzept der Prosopopoiia können diese beiden Aspekte zusammengezogen werden. So wird transparent, wie in Timms jüngerem Œuvre gerade die Stimmen von Sterbenden oder Toten die Erinnerung tragen.


Andrea Albrecht: “Kalzium gegen das Absurde”: Uwe Timms poetischer Existentialismus
Uwe Timms literarisches Schreiben ist auf besondere Weise durch die existentialistische Philosophie Albert Camus’ konditioniert, zu der er 1971 promoviert hat. Ausgehend von der Dissertation folgt der Beitrag den poetischen Spuren des Existentialismus und zeigt am Beispiel von ausgewählten Erzählpassagen aus Heißer Sommer (1974), Rot (2001) und dem autobiographischen Text Der Freund und der Fremde (2005), wie Timm Kernelemente des existentialistischen Denkens für die Initiierung eines Generationengesprächs nutzt, das um die Relevanz und anhaltende Bedeutung der 68er-Bewegung kreist. Ästhetisch verarbeitet wird dieser poetische Existentialismus zunächst in einer ironisch-satirischen, später in einer humoristischen Poetik, die sowohl Camus’ Skepsis gegenüber geschichtsphilosophischen Programmen als auch sein Beharren auf den Aporien der conditio humana umzusetzen sucht.


Stefan Neuhaus: Zärtliche Nähe und unüberwindbare Ferne: Hybride Subjekte im Werk von Uwe Timm
Uwe Timm problematisiert in seinen literarischen Texten zentrale Bausteine der Subjekt-konstitution: Beziehung, Familie, Arbeit, Herkunft, kulturelle Muster. Wie dies geschieht, soll vor allem am Beispiel der Romane Heißer Sommer (1974), Kerbels Flucht (1980), Morenga (1978) und Der Schlangenbaum (1986) gezeigt werden. Die Krisenhaftigkeit und Orientierungslosigkeit des Subjekts in der Postmoderne führt zu Brüchen und Widersprüchen in Figurenkonzeptionen und Handlungen; zugleich werden Möglichkeiten zur Disposition gestellt, die jeweils vorhandenen Gestaltungsspielräume zu nutzen. Es scheint geradezu ein besonderer Vorzug des Werks von Uwe Timm zu sein, dass er bei seinen Modellierungen von Figuren-Subjekten als Ausgangspunkt die eigene Erfahrungswirklichkeit nimmt — die in der Erinnerung ohnehin narrativ geformte Erfahrung wird weiter fiktionalisiert, damit Literatur als Medium der Vermittlung von Subjekt und (Um-)Welt fungieren kann.


Monika Albrecht: Das Beispiel Kropotkin: Umsetzung von ‘68er Inhalten’ bei Uwe Timm
Der Essay diskutiert Uwe Timms Teilhabe an dem Ringen um das Erbe der 68er Bewegung und ihren Stellenwert im gegenwärtigen kulturellen Gedächtnis. Anhand des Romans Rot (2001) und der Novelle Freitisch (2011) und mit Seitenblicken auf andere Erzähltexte wie den Roman Morenga (1978) wird gezeigt, dass der Autor zentrale 68er Ideen und Ideale immer wieder vor veränderten historischen Kontexten diskutiert und nach dem Spielraum fragt, den diese heute noch haben könnten. Am Beispiel der Auseinandersetzung mit anarchistischen Positionen, insbesondere der Studie Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt von Pjotr Kropotkin, wird die These aufgestellt, dass theoretische ‘68er Inhalte’ bei Uwe Timm im literarischen Text umgesetzt werden, indem sie in Figuren- und Handlungskonstellationen eingehen und damit strukturbestimmend werden.


Milka Car: Uwe Timms Morenga: Ein historischer Dokumentarroman
Im Roman Morenga wird eine doppelte narrative Strategie verfolgt: Auf der Folie der Biographie der fiktiven Figur des Oberveterinärs Gottschalk werden fünfzig Jahre deutscher Kolonialgeschichte und imperialistischer Unterwerfung von Südwestafrika dargestellt. Die Konterkarierung der kolonialen Diskurse mit afrikanischer Alterität relativiert die dichotomisch-hierarchischen Vorstellungen und signalisiert ein kritisch-engagiertes Literaturverständnis. Es kommt insbesondere im Changieren zwischen Fiktion und Realität zum Ausdruck, so dass in der Arbeit gattungstypologische und literaturtheoretische Fragen gestellt werden, die auf den Status des Dokumentarischen und Timms früher realistischer Poetologie eingehen. Erst durch die Kontrastierung der fiktionalen mit der historiographischen Ebene wird den Dokumenten die Kraft der Wirklichkeitsbezeugung verliehen. Somit wird Timms Montagetechnik als Re-Integration der dokumentarischen Methode in den fiktionalen Diskurs gedeutet.


Christof Hamann: Grotesker Realismus: Uwe Timms Der Mann auf dem Hochrad
Die ‘Normalversion’ eines realistisch-historischen Erzählens, wie sie u.a. von Georg Lukács skizziert wurde, erfährt in Uwe Timms Der Mann auf dem Hochrad eine Erweiterung ebenso wie eine Irritation durch die Kombination mit einer grotesk-komischen Kunst, wie sie danach von Timm allenfalls noch ansatzweise in Die Entdeckung der Currywurst oder in Johannisnacht umgesetzt worden ist. Vor der Folie des Fahrraddiskurses um 1900 analysiert der Beitrag im Sinne Michail M. Bachtins aktualisierte groteske Überschreitungen der Grenzen zwischen dem menschlichen Körper und dem Hochrad, zwischen Mann und Frau, zwischen Mensch und Tier sowie zwischen unterschiedlichen Tierarten. Diese münden in ein zwischen Tragik und Komik bzw. zwischen Realismus und Groteske changierendes Erzählkonzept, das ein befreiendes, herkömmliche Hierarchien und Ordnungen zumindest zeitweilig auflösendes Lachen ermöglicht.


Monika Shafi: Discourses of Work: Uwe Timm’s Kopfjäger: Bericht aus dem Inneren des Landes
This article offers a reevaluation of Timm’s novel Kopfjäger: Bericht aus dem Inneren des Landes (1991), foregrounding discourses of work. It argues that, in addition to anticipating core elements of the new economy, the novel draws attention to the close connection between work and identity. Its focus on one of capitalism’s key challenges, namely for work to generate both income and meaning, is developed by contrasting the tradition of craftsmanship with a performance paradigm. Craftsmanship and narration are treasured and used as a touchtone to evaluate work and character. Yet the nostalgia for past practices collides with the lure of unfettered capitalism—a contradiction that remains unresolved—and none of the characters can find work that also provides for personhood.


Julia Schöll: Mobile Poetik: Uwe Timms Romane Johannisnacht und Halbschatten
Uwe Timms literarische Texte inszenieren stets das Unterwegssein ihrer Helden. Dieser Mobilität auf der Ebene der histoire, so die These des Aufsatzes, entspricht ein Moment der Bewegung auf der Ebene des discours. Anhand der Romane Johannisnacht und Halbschatten wird analysiert, wie die Verschränkung von narrativer und poetologischer Ebene funktioniert. In Johannisnacht erfolgt diese Analyse entlang des Topos des literarischen Flaneurs sowie der Gattung der Wandersage, im Roman Halbschatten korrespondiert die polyphone Erzähltechnik der in viele einzelne Geschichten aufgesplitterten Darstellung von Geschichte. Beide Texte dekonstruieren die Diskursmacht der “Meistererzählungen” und konstruieren individuelle und kollektive Identität stattdessen über subjektive Deutungen von Mythos und Historie. Timms Texte entwerfen das mobile Subjekt, das diese Deutungen vornimmt, als literarische Figur, als erkenntnistheoretisches Idealmodell und als fiktiv-realen Autor.


Inge Stephan: Terrorismus als erzählerische Herausforderung: Die Trilogie Deutscher Herbst von Friedrich Christian Delius
Mit den drei Romanen Ein Held der inneren Sicherheit (1981), Mogadischu Fensterplatz (1987) und Himmelfahrt eines Staatsfeindes (1992) hat F. C. Delius eine Chronik der bundesrepublikanischen Gesellschaft in den Zeiten ihrer größten Gefährdung vorgelegt. Sie wurde von der damaligen Kritik als eine brillante Terrorismus-Studie zwar gewürdigt, ist in den gegenwärtigen öffentlichen Debatten über die RAF aber kaum präsent. Die drei Romane sind nicht nur eine frühe und hellsichtige Auseinandersetzung mit dem Terrorismus und seinen bis heute verstörenden Folgen, sie sind bedeutsam auch als Beispiel einer politischen Erzähltradition, in der Fakten und Fiktionen narrativ so verschränkt sind, dass eine “Wirklichkeit” entsteht, die den historischen Abläufen immer verbunden bleibt, zugleich aber fiktionale Räume eröffnet, in denen Geschichte subjektiv erfahrbar wird.


Jan Röhnert: Balkanlebensmitschrift und Friedensutopie: Autobiographische Selbstbehauptung bei Peter Handke
Der Beitrag versucht, Peter Handkes Werk als autobiographisches Erzählprojekt zu verstehen, das kontinuierlich von der Überschreitung des Gattungskanons wie vom Wechsel zwischen der fiktionalen und faktischen Wirklichkeitsebene lebt. Diese Art semifiktionalen autobiographischen Schreibens führt als Lebensmitschrift durch wiederkehrende geographische Räume, von denen der Balkan der imaginär am meisten aufgeladene ist. Gerade diese Kriegsregion erfährt in provokanter Umkehrung der offiziellen Geschichte ihre Gegen-Darstellung als Raum einer potentiellen Friedensutopie durch die in Handkes Lebensmitschrift eingestreuten Sinnbilder, Epiphanien und “Epopöen”: Statt sich dem Fatalismus der Geschichte zu unterwerfen, macht sich der Erzähler im selben Raum zum Mitteilungsorgan anderer Geschichten, in denen sich die für Handkes Poetik so wichtige “andere Zeit” mittels poetischer Techniken der Objektivierung, Ästhetisierung und Anekdotisierung ereignen soll.


Susan C. Anderson: Modes of Translation: Ovid‘s Metamorphoses in Ransmayr‘s Die letzte Welt
Christoph Ransmayr’s novel Die letzte Welt criticizes conventional ideas of translation and of the roles of author and translator in the form of a story about a failed effort to reinscribe Ovid’s Metamorphoses. This article explores different modes of translation presented in the novel and how these also probe notions of authorship. On the one hand, the novel seems to suggest that an author is merely a function of discourse; on the other, it implies the author is all powerful. By tracing the roles of the translator and translation, this analysis shows the tensions and ambiguities at play between these two notions of the powerless and of the omnipotent author, and how each idea both challenges and relies on the other.


Simone Costagli: Ein postmoderner historischer Roman: Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt
Dieser Beitrag bietet eine literarische Standortbestimmung von Die Vermessung der Welt im Kontext der deutschen Gegenwartsliteratur. Kehlmanns Erfolgsroman unterscheidet sich in seiner Darstellung von Geschichte von der “hyperrealistischen” Tendenz der um 2000 stark vertretenen “Erinnerungsliteratur”. Sein spielerischer Umgang mit den Gattungen der Biographie und des Abenteurromans, seine Nichtbeachtung des Problems der historischen Treue, der Bezug auf die Epoche um 1800 und auf das Thema der Krise des modernen Fortschrittsgedankens lassen Die Vermessung der Welt vielmehr als Fortsetzung des postmodernen historischen Romans erscheinen, der in den 1980er Jahren seine Blütezeit erreichte. Hingewiesen wird auch darauf, dass Kehlmanns Roman sich durch seinen parodistischen Stil von der apokalyptischen Stimmung distanziert, die etwa Die Entdeckung der Langsamkeit, Marbot oder Die letzte Welt charakterisiert.


Brian Tucker: The Palimpsest of Place in Judith Hermann’s Nichts als Gespenster
Judith Hermann begins Nichts als Gespenster with a Beach Boys citation, but her epigraph cites its original incorrectly. My paper reads this distorted citation as a palimpsest, an instance of writing over, and argues that the discrepancy between lyric and epigraph captures a key dynamic in Hermann’s stories, a tension between person and place. Through readings of “Kaltblau” and “Die Liebe zu Ari Oskarsson,” the paper reinterprets Hermann’s treatment of travel and desire. It allows one to see the characters’ disconcertingly superficial engagements with foreign locales not as a defect but rather as part of the volume’s narrative design. What emerges is an insight into the drift that occurs between experience and the narrative of experience one chooses to create.


Natasha Gordinsky: Das Draußen im Eigenen entdecken: Über Judith Hermanns Sommerhaus, später
Der Aufsatz untersucht die Transformationen modernistischer Tropen der Entfremdung und Heimatlosigkeit in Judith Hermanns Erzählband Sommerhaus, später. Es wird argumentiert, dass in der Entfernung von der Heimat als einer Bedingung des Schreibens in Hermanns Text versucht wird, das Schreiben in deutscher Sprache zu deterritorialisieren. Dazu werden Hauptstrategien der sprachlichen Enträumlichung dargestellt, und zwar sowohl auf der Ebene der Erzählung wie auf metapoetischer Ebene. Der intertextuelle Dialog mit Alexander Kurpin, Ingeborg Bachmann und Hermann Melville in “Rote Korallen” wird als eine Möglichkeit zur Grenzüberschreitung der deutschen Literatur verstanden. Eine zweite Strategie der Deterritorialisierung von Sprache mittels gebrochener räumlicher Kontinuität wird anhand weiterer Erzählungen aus Sommerhaus, später beschrieben.


Franziska Meyer: Sommerhaus, früher: Jenny Erpenbecks Heimsuchung als Korrektur von Familienerinnerungen
Der Roman Heimsuchung macht über die Geschichte eines Sommerhauses und seiner unterschiedlichen Bewohner unsichtbare historische Tatorte kenntlich und ruft unbekannte Verschwundene ins Gedächtnis. Archivrecherchen über den eigenen Kindheitsort konfrontieren Erpenbeck mit der Vernichtung der ehemaligen jüdischen Nachbarn. Dies wird zum Anlass einer neuen poetischen Ortsbesichtigung. Die größten Grausamkeiten verbinden dieses Sommerhaus mit anderen Orten in Russland, Polen und anderswo. In der präzisen räumlichen Inszenierung historischer Verbrechen, die dem Gedächtnis der Körper an versteckten unbekannten Orten nachspürt, entwirft das Buch einen neuen literarischen Gedächtnisort. Erpenbecks ortsgebundene Poetik der Erkenntnis und die Darstellung miteinander unvereinbarer historischer Figurenperspektiven unterscheidet sich von anderen literarischen Erinnerungen, die im Muster von Familiengenealogien repräsentative Generationen erfinden.

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Letzte Änderung: 26.11.2016 10:12:00

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