Paul Michael Lützeler / Erin McGlothlin (eds.)
Gegenwartsliteratur
Ein germanistisches Jahrbuch
A German Studies Yearbook
10/2011
Schwerpunkt/Focus: Herta Müller

Band 10/2011, 342 Seiten
EUR 24,50
ISBN 978-3-86057-581-9


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Inhaltsverzeichnis:

I. Schwerpunkt/Focus: Herta Müller

HARTMUT STEINECKE
Herta Müller: Atemschaukel. Ein Roman vom “Nullpunkt der Existenz”.

Herta Müller schrieb Atemschaukel (2009) auf der Basis von Schilderungen Oskar Pastiors über den Alltag in einem sowjetischen Arbeitslager. Ziel ist es zu zeigen: daraus entstand nicht “Gulag-Literatur aus zweiter Hand” (Radisch), sondern ein politischer und moralischer Roman mit einer für Terror und Grauen angemessenen, genauen und doch zugleich poetischen Sprache. Nach einer Skizze des historischen Hintergrunds der Deportationen von Rumäniendeutschen 1945/1950 beschreibt und gewichtet der Essay die Mitarbeit Pastiors: analysiert wird der Prozess der Umformung und Literarisierung des Erzählten. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den realistischen Substraten und Detailschilderungen sowie den Leitmetaphern “Hungerengel”, “Herzschaufel” und “Atemschaukel”. In der Spannung zwischen diesen Polen entwickelt Müller Form und Sprache für das Schreiben über das Leben am “Nullpunkt der Existenz”.

MICHAEL BRAUN
Die Erfindung der Erinnerung: Herta Müllers Atemschaukel

Der postmemoriale Roman Atemschaukel (2009) illustriert Herta Müllers Poetik der erfundenen Erinnerung. Das Zeitzeugengespräch mit Oskar Pastior und persönliche Familienerinnerungen der Autorin stehen Modell für einen fiktiven Ich-Erzähler, der mit einer dinggenauen Kunstsprache der Erinnerung und mit dem für Müllers Schreibweise kennzeichnenden “fremden Blick” ausgestattet ist. So transformiert Müller ein tabuisiertes Kapitel europäischer Nachkriegsgeschichte — die Deportation eines Großteils der rumäniendeutschen Bevölkerung in sowjetische Arbeitslager — in das Gedächtnis der Literatur. Der Beitrag untersucht die Vorgeschichte dieser Gedächtnisarbeit in dem Debütband Niederungen (1982/1984), die Entstehung von Atemschaukel, die sprachliche Form und die Struktur des Romans sowie die Rolle der poetischen Erinnerung, die sich anstelle von unmittelbarer autobiographischer Erinnerung spezifischer Mittel der Fiktionalisierung bedient.

NORBERT OTTO EKE
“Gelber Mais, keine Zeit”. Herta Müllers Nach-Schrift Atemschaukel. Roman

Irritierend ist die Art und Weise, in der Herta Müller in ihrem 2009 erschienenen Roman Atemschaukel von der Deportation deutschstämmiger Männer und Frauen in sowjetische Arbeitslager erzählt. Als befremdlich erscheinen in diesem Roman Sprache und narrative Konstruktion; brüchig sind zumal die oft in eigentümlicher Weise entfalteten Bilder, mit denen Herta Müller Bedeutung markiert, Körper und Gegenstände besetzt. Der Aufsatz analysiert dieses ästhetische Formgebungsverfahren vor dem Hintergrund der Gulag-und Shoah-Literatur und den ihr eingeschriebenen Fragen der Darstellbarkeit und Kommunizierbarkeit genozidaler Gewalterfahrungen. Dabei stehen Fragen der Konstruktion postmemorialen Eingedenkens ebenso zur Diskussion wie solche der Authentizität/Zeugenschaft. Zugleich wird der Roman über die Darstellung zentraler Themen und Motive (Entzeitlichung der Lagerrealität, Entindividualisierung, fortgesetzte Traumatisierung) sowie Metaphern (Hungerengel, falsche Zeit) diskurs- und literarhistorisch kontextualisiert.

HELGA MITTERBAUER
Ästhetische Hybridisierung: Verfremdungstechniken in Herta Müllers Die blassen Herren mit den Mokkatassen

Im Vergleich mit ihren Romanen hat Herta Müller ihre Collagen wiederholt als genre mineur bezeichnet. Am Beispiel der Sammlung Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2008) wird diese von der literaturwissenschaftlichen Forschung weitgehend affirmierte Autorenpoetik relativiert und korrigiert: Betrachtet als ästhetisch hochwertige Hybridbildungen treten bislang kaum beachtete ikonische Momente der Text-Bild-Komposita ins Blickfeld. Durch die Aufhebung der Dichotomie von Sprache und Bild werden die Collagen zu einem kommunikativen Experimentierraum, in dem zahlreiche Anleihen an Formensprachen des Barock über die Zweite Moderne bis zum Surrealismus verknüpft, transformiert und verdichtet werden. Müllers Technik des Schneidens, Neu-Ordnens und Klebens zielt auf das Verwischen von Spuren; doch gerade durch dieses Verfahren treten die thematisierten Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts erst recht aus den Bruchstellen hervor.

CHRISTOPH PARRY
Zur Enklavenproblematik bei Herta Müller und Joseph Zoderer

Das Frühwerk Herta Müllers malt ein kritisches Bild von der Gesellschaft ihrer heimatlichen Sprach-Enklave, des schwäbischen Banats. Dieses Bild wird auf der Grundlage soziologischer Erkenntnisse über das Leben bedrängter Minderheiten untersucht. Als Vergleichspunkt wird Südtirol, die Heimat Joseph Zoderers, herangezogen. Der Beitrag spürt den Merkmalen einer Enklavenmentalität im Frühwerk Müllers und in zwei Romanen Joseph Zoderers nach. Trotz politischer und wirtschaftlicher Unterschiede zwischen dem untergehenden Banat und dem blühenden Südtirol, lassen sich in beiden Fällen Tendenzen zur Abschottung nach Außen und zur Intoleranz nach Innen erkennen. Während Müller die Introvertiertheit der Enkla-venbewohner in satirischen Bildern präsentiert und dem Leser die Situation der Sprachinsel mit originellen Sprachwendungen näherbringt, untersucht Zoderer die psychologischen Mechanismen, welche den Fortbestand der besonderen Enklavenmentalität verursachen.

II. Einzelinterpretationen

SABINE DORAN
Writing van Gogh through Francis Bacon: Friederike Mayröcker’s Non-Human Aesthetics

Mayröcker’s short prose piece “Vincent van Gogh: ‘Maler auf dem Weg nach Tarascon’ / Francis Bacon: ‘Studie zu Porträt van Gogh I’” is read as an attempt to deconstruct the quasi-mythical image of Van Gogh (as the humanistic icon par excellence of modern art) through Bacon’s visual deconstruction of the painter, an endeavor inspired by Gilles Deleuze’s analysis of Bacon’s work in terms of a “logic of sensation.” The performative aspects of Mayröcker’s writing are highlighted—in particular, the ways in which she imitates the painting techniques of van Gogh and Bacon by transforming them into literary figures through décollage—to show how Mayröcker dissolves the human subject in the service of a non- or post-human aesthetics.

ALEXANDRA PONTZEN
Polemik und Ostalgie. Zu Günter Grass’ Tagebuch 1990 mit Seitenblick auf Peter Rühmkorfs TABU

Mit seinen Stellungnahmen zur Wiedervereinigung hat sich Grass ins politische Abseits manövriert. Seine einschlägigen Essays, Reden und neuerdings sein Tagebuch 1990 zeigen einen einheitsskeptischen polemischen Außenseiter, der sogar Auschwitz als Argument gegen “das angebliche Recht auf deutsche Einheit” instrumentalisiert. Grass’ Klage über den Sieg der Bundesrepublik und das Ende der DDR ist weniger Ausdruck politischer Gesinnung und banaler Ostalgie als Konsequenz einer ‘Poetik des Verlusts’, die den Erzähler verpflichtet, statt auf der Seite der Sieger zu stehen, vom Verlust zu leben. Sie macht Grass trotz seiner Nähe zur politischen Linken zum auf Bewahrung bedachten Konservativen, der angesichts der politisch-historischen Umwälzungen des Mauerfalls im “rechten linken Glauben” verharrt — im Unterschied zum Freund Peter Rühmkorf, wie dessen Tagebuch aus gleicher Zeit verdeutlicht.

ANNA K. KUHN
Of Trauma, Angels and Healing: Christa Wolf’s Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud

Christa Wolf’s most recent autobiographical narrative can be read as her long-awaited Wenderoman, in which she works through her relationship to the GDR and German (re)unification. It also marks a turn to a nonrational epistemology and a new, fanciful, self-ironic mode of writing. Situating Stadt der Engel within Wolf’s oeuvre and life narrative, the article uses a close reading method to argue that in this literary reworking of her nine-month stay as scholar in residence at the Getty Center in Santa Monica, Wolf’s Doppelgänger-narrator, haunted by her GDR past, moves from trauma and existential crisis to self-acceptance and psychic healing. Vital to the narrator’s recovery is the Getty Center’s sociality, Freud’s imaginary overcoat, the teachings of a Buddhist nun, and the housekeeper-cum-guardian angel, Angelina.

JANINE LUDWIG
“Die Kunst wird Sie nicht retten" – Christoph Heins
Frau Paula Trousseau als tragischer Kunst-Roman

Die Malerin Paula Trousseau — eine einsame, unpolitische, narzisstische und kalkulierende Person — scheitert am Leben, privat wie künstlerisch. Eine Schlüsselmetapher hierfür ist ihr wichtigstes Kunstwerk: das monochrom weiße Bild einer Winterlandschaft, das dem Formalismus-Verdikt der DDR zum Opfer fällt. Die unterm Schnee verborgene Natur (gleichsam eine eingeschneite Utopie) symbolisiert ihren Wunsch nach Liebe. In einem Akt von ihrer Geliebten erhält diese Utopie einen realen Körper. Paula Trousseau flieht in die Kunst und zahlt den Preis dafür: Kommunikation gelingt ihr weder mit dem Rezipienten durch das Kunstwerk noch mit der eigenen Tochter durch ihren autodiegetischen Lebensbericht. Der Roman fragt weniger nach der Rolle der Kunst in einer Diktatur als nach der Vereinbarkeit von Kunst und Leben, nach dem Glück überhaupt.

BERNHARD MALKMUS
Das Naturtheater des W.G. Sebald: Die ökologischen Aporien eines poeta doctus

Dieser Aufsatz untersucht das Motiv der “Naturgeschichte” und dessen philosophische Wurzeln und Implikationen im Werk W.G. Sebalds unter besonderer Berücksichtigung der Veröffentlichungen, die explizit ökologische Fragestellungen thematisieren, Nach der Natur und Die Ringe des Saturn. Sebalds Verankerung dieser Naturgeschichte in einer ontologisch aufgefassten Verfallsgeschichte in Anlehnung an Benjamins Geschichtstheologie und den Mythosbegriff der Dialektik der Aufklärung führt zu einem primär kulturzentrierten Konzept von Ökologie, das die Geschichte der Moderne als fortschreitende Katastrophe liest. Dieser philosophisch motivierte Überbau wird zwar von bestimmten Schreibverfahren Sebalds unterlaufen, die sich an Modellen des Netzwerks und wechselseitiger Interdependenzen orientieren und damit eine anthropofugale Bewegung inszenieren. Durch die Einbindung dieser poetischen Verfahren in das Dispositiv der Naturgeschichte wird diese Bewegung allerdings wieder in eine anthropozentrische rücküberführt.

GUNDELA HACHMANN
“Sieh auf deine Hand, bis sie zerfällt.” Entropie und Individualzeit in Thomas Lehrs Roman 42

Thomas Lehrs Roman 42 thematisiert und problematisiert das Zustandekommen von Wissen. Der Roman entwirft eine Dystopie, in der wesentliche Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind: Die Erde rotiert nicht länger und die Zeit bleibt stehen. Die wiederholten Versuche, dieses Phänomen wissenschaftlich erklär- und manipulierbar zu machen, scheitern. In der Darstellung dieses Scheiterns bietet sich dem Erzähler die Möglichkeit, sich mit poetischen Mitteln einer anderen Form des Wissens asymptotisch anzunähern. Die Frage “Was ist Zeit?” beantwortet er, indem er Newtons universalistische Metapher vom Fluss der Zeit ablehnt und stattdessen auf somatischer Ebene Zeit an biologische Verfallsprozesse koppelt. Die so gewonnene Distanz zum Universalismus nutzt der Text, um mithilfe von Medienvergleichen ein Konzept intersubjektiver und partikularer Identität zu entwickeln.

CHANTELLE WARNER
A Turkish Tale: Genre, Subjectivity, and the Controversy around Feridun Zaimoglu’s Leyla

The article examines the critical reception of Feridun Zaimoglu's 2006 novel Leyla in the wake of the plagiarism controversy that ensued when an anonymous scholar alleged that there were parallels between this work and Emine Sevgi Özdamar’s novel Das Leben ist eine Karawanserei (1992). Through a comparative analysis of the critical discussions around Leyla both before and after the plagiarism charges, as well as the reception of Zaimoglu's earlier works, such as Kanak Sprak (1995), it is argued that the theoretical framework of genre theory can help us to better understand the pragmatics of a work such as Leyla — which is a literary work with strong documentary claims — in terms of relevance, symbolic power, and the subjective positioning of the author.

ANDREA ALBRECHT
Bilinguale Sprachspiele zwischen Ost und West: Yoko Tawada und Xiaolu Guo

Der Beitrag geht der Beobachtung nach, dass in den Texten der deutsch und japanisch schreibenden Yoko Tawada und der englisch und chinesisch schreibenden Xiaolu Guo die ‘Kohabitation’ einer östlich-asiatischen und einer westlichen Sprache inszeniert wird, die trotz der unterschiedlichen kulturellen Kontexte auf einem bemerkenswert ähnlichen Formenrepertoire basiert. An Tawadas Poetik der “Lücken” sowie ihren literarischen Essays auf der einen und an Guos Konzept “karikaturistischer Toleranz” und ihrem Roman A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers auf der anderen Seite werden die Strategien einer bilingualen Ästhetik nachgezeichnet, die durch komische poetische Effekte eine ethische Erkenntnis zu vermitteln sucht: die Möglichkeit eines ästhetischen Genusses, für den die asiatischen und die europäischen Sprachen aufeinander angewiesen sind.

Rezensionen/Book Reviews.


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Letzte Änderung: 26.11.2016 10:12:00

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