Der Tessin – das war eine lange Zeit hindurch ein mythischer Ort, zunächst
für die deutsche Alternativkultur ab 1900, dann für die deutschen Urlauber nach
1950. In den letzten Jahren ist es um die «italienische» (weil
italienischsprachige) Schweiz etwas ruhiger geworden – Grund genug für
Zibaldone, der kulturellen Entwicklung im nördlichen Grenzland Italiens
genauer (und auch etwas anders als in Reiseführern) nachzugehen. Dabei zeigt
sich, wie arm der Kanton ursprünglich war, aus dem noch zu Beginn des 20.
Jahrhunderts viele Einwohner als ‹Wirtschaftsflüchtlinge› nach Lateinamerika
auswanderten. Mit dem frühen 20. Jahrhundert verbindet sich die zentrale Rolle
des Monte Verità bei Ascona für die ganze europäische Tradition alternativer
Kulturbewegungen; Harald Szeemanns legendäre Ausstellung hat in den siebziger
Jahren daran erinnert. Und während der Jahre des italienischen Faschismus (der
bekanntlich doppelt so lange dauerte wie der deutsche) war gerade der Tessin ein
zentraler Zufluchtsort für in Italien selbst verfolgte oder nicht zu Wort
kommende Intellektuelle. Unser Heft versucht, diese Erinnerungslinien mit
einigen Aspekten der jüngeren Entwicklung der Tessiner Kultur zu verbinden und
so ein kulturelles Panorama der italienischen Kulturentwicklung außerhalb
Italiens nachzuzeichnen.
Pressestimme:
Das Tessin, literarisch Gustav
Siebenmann
Seit 1986 erscheint der «Zibaldone», eine Zeitschrift für
Italien-Freunde. Ihr 43. Heft widmet sie dem Schwerpunkt «Tessin – die
italienische Schweiz». Dem Titel der Zeitschrift entsprechend – er bedeutet
wörtlich «Sammelsurium» – erscheinen zum Thema Tessin Aufsätze verschiedenster
Art: Der gewichtigste ist Regina Buchers ausführliche und kenntnisreiche Chronik
über Hermann Hesses Zeit in Montagnola. Die Kuratorin des dortigen Museo Hermann
Hesse bringt dem Leser die Gestalt des Nobelpreisträgers in gewinnender Weise
näher. Weiter zurück in die Vergangenheit greifen Artikel wie «Die bewegte
Frühzeit (1895–1914) der Arbeiterbewegung» im Tessin (Gabriele Rossi) oder der
bissige Kurztext Erich Mühsams über seine Abenteuer in Ascona (1905) oder –
ebenfalls zur Alternativkultur auf dem Monte Verità – der authentische Bericht
über die Geburt des Ausdruckstanzes im Tessin (Susanne Franco). Friedrich Geiger
berichtet als Musikhistoriker über die Tessiner Zeit des russischen Emigranten
Wladimir Vogel, der während der Kriegsjahre mit Aline Valangin in Comologno
lebte und komponierte.
In welchem – eher bescheidenem – Masse der 1931
gegründete Sender Radio Monte Ceneri während des Faschismus in Italien ein
Zentrum der kulturellen Ausstrahlung zu sein vermochte, das schildert die
Historikerin Nelly Valsangiacomo kenntnisreich und mit der gebührenden Vorsicht.
Im Dossier «Tessiner Lyrik heute» lesen wir Texte (zweisprachig) von Antonio
Rossi und unveröffentlichte Gedichte von Fabio Pusterla. Eduardo Costadura fügt
längere Interviews mit diesen beiden Dichtern hinzu. An Aktuelles – den 150.
Geburtstag von Leoncavallo 2007 – knüpft der Bericht über die zwölf in Brissago
verbrachten Jahre des Komponisten von «Ridi Pagliaccio» an (Gustav A. Lang).
Dort ist 2002 das Museo Ruggero Leoncavallo eröffnet worden, wo dank einer
Stiftung der Baronessa Hildegard von Münchhausen und der Gemeinde Brissago der
Nachlass des Komponisten zusammengeführt wurde. Dessen sterbliche Überreste sind
1989 von Florenz nach Brissago übergeführt worden, wie es der 1919 Verstorbene
gewünscht hatte. Den Textteil beschliesst ein analytischer Rückblick auf das
Filmfestival in Locarno. Die Herausgeber haben in diesem Heft mit Geschick
gewisse Erinnerungslinien mit Aspekten der jüngeren Kulturentwicklung im Tessin
zu verbunden. Neue Zürcher Zeitung, 4.12.2007; online unter: <http://www.nzz.ch/nachrichten/startseite/das_tessin_literarisch_1.593673.html>
Aus dem Inhalt:
Vorwort der Herausgeber
-
Gabriele Rossi: Die Frühzeit der Arbeiterbewegung im
Tessin
-
Erich Mühsam: Aus «Ascona»
(1905)
-
Susanne Franco: Tanzen in Ascona. Die Geburt des Ausdrucktanzes im
Tessin
-
Regina Bucher: Hermann Hesse im Tessin
-
Friedrich Geiger: Ein Komponist im Tessin: Wladimir
Vogel (1896-1984)
-
Nelly Valsangiacomo: Ein ‹italienisches› und ‹freies›
Radio: Das Radio svizzera di lingua italiana während des
Faschismus
Dossier Tessiner Lyrik heute
-
Edoardo Costadura: Interview mit Antonio Rossi
-
Antonio Rossi: Poesie
da Sesterno
-
Edoardo Costadura: Interview mit Fabio Pusterla
-
Fabio Pusterla: Poesie inedite
Gustav A. Lang: «Ridi Pagliaccio» am Lago Maggiore. Ein
Museum für Ruggero Leoncavallo in Brissago
Daniel Winkler: Eine Stimme für den jungen Autorenfilm.
Geschichte und Programmatik des Festival Internazionale del Film di Locarno
Notizbuch
Rezensionen.
|